LE GRAND BAL – DAS GROßE TANZFEST

Regie - Laetitia Carton

Laetitia Carton studierte Bildende Kunst in Clermont-Ferrand, ihre Arbeiten stellte sie u.a. in der Abtei St. Andrew in Meymac, im Zentrum für Plastische Kunst in St Fons, in Creux de l'enfer in Thiers, im zeitgenössischen Kunstraum von Paris sowie im Museum für zeitgenössische Kunst in Lyon aus.
Nach ihrem Studienabschluss entdeckte Carton an der Kunsthochschule in Lyon den kreativen Dokumentarfilm und entschied sich dafür, einen Master in Dokumentarfilm-Produktion in Lussas (Universität von Grenoble) zu machen.
Ihr Abschlussfilm „D'un chagrin j'ai fait un repos“ war international erfolgreich und wurde sogar in Kuba gezeigt, wo er einen Preis gewann. 2009 drehte sie ihren ersten Film für das Fernsehen, „La pieuvre“, über eine neurodegenerative Erkrankung, welche ihre Familie langsam dezimiert, die „Huntington“-Krankheit. Parallel dazu begann sie 2006 einen Film über Schwerhörige und ihre Zeichensprache zu drehen, den sie neun Jahre später abschloss. „J’avance vers toi avec les yeux d’un sourd“ kam 2016 in die französischen Kinos. Gleichzeitig filmte sie ein Porträt über ihren Freund Edmond Baudoin, einem bekannten Komikbuch-Autor, der im September 2015 in den Kinos startete.

Filmographie

Le grand bal – Das große Tanzfest, 2018
J’avancerai vers toi avec les yeux d’un Sourd - 2016
EDMOND / un portrait de Baudoin - 2015 (Großer Preis beim Festival Traces de vies)
La Pieuvre - 2010 (Jury- und Publikumspreis beim Festival A nous de voir)
D’un chagrin j’ai fait un repos - 2005 (Ausbildungspreis beim Festival Traces de vies, Dokumentarfilmpreis beim Internationalen Filmfestival Cinepobre de Gibara (Cuba)


Anmerkungen der Regisseurin

Ich tanzte schon immer gerne.

Ich hatte keine Vorbilder, meine Eltern tanzten nicht. Aber meine Großmutter erzählte mir oft, dass sie, als sie jung war, bevor ich sie kannte, aufs Tanzparkett stürmte und erst in den Morgenstunden wieder aufhörte zu tanzen. Ihr Gesicht leuchtete, wenn sie von diesen Nächten im Rausch der Bewegung, der Musik und der Begegnungen erzählte.

Bei meinem ersten traditionellen Tanzball war es um mich geschehen.

Es war an einem Samstag im Januar, in einem kleinen Dorf in der Auvergne in einer proppenvollen Scheune mit echten Musiker*innen auf der Bühne. Die Musik war wunderschön und jede*r tanzte. Ein echtes Fest! Hunderte Menschen. Darunter viele junge, das überraschte mich. Alle drehten sich, klatschten, guckten sich an, lächelten oder konzentrierten sich auf ihre Schritte – alle tanzten, wirklich. Und waren vor allem fröhlich, erfreuten sich am Beisammensein. Die Tänzer*innen verließen die Tanzflächen einfach nicht, sie tanzten bis zum Morgengrauen. Das Lächeln, die verschwitzten Handflächen, die Umarmungen am Ende eines Liedes vor dem Partner*innen-wechsel. So viel zwischenmenschliche Wärme. Ein eingängiges, energiegeladenes, funkiges Stück, bei dem wir alle abgingen, der Rhythmus sich beschleunigte und wir auch – stilvoll – dann wieder nostalgische und sentimentale Melodien, bei denen sich die Paare näherkamen, ihre Köpfe sich berührten. Die Zeit stand still.
Die Welt dieser Bälle liebte ich sofort. Ich fühlte mich so gut da, wie zu Hause. Seitdem markierten die Bälle mein Leben.

Vor 15 Jahren war ich das erste Mal beim Grands Bals de l’Europe, dem Tanzball in Gennetines in der Region Allier.

Das ist ein magischer Ort, eine verzaubernde Auszeit. Dort wird ununterbrochen getanzt, sieben Tage lang. Die Musiker*innen hören nie auf, zu spielen. Tag und Nacht. Heute, 30 Jahre nach der
Gründung des Grands Bals de l’Europe, kommen jährlich 2000 Menschen nach Gennetines, die eine Woche lang auf acht, neun Tanzböden oder draußen tanzen. 20 Musikbands wechseln sich an den Tanzflächen ab, 500 Musiker*innen spielen bei den Workshops tagsüber, und am Abend gibt es 15 verschiedene Bälle. Alle Generationen, alt und jung, mischen sich und tanzen miteinander.
Das gefällt mir am besten. Ich kenne keinen anderen Ort zum Feiern, an dem so unterschiedliche Altersgruppen und Lebensstile zusammenkommen. Mädchen tanzen mit Jungen, Jungen mit Mädchen, Frauen mit Frauen, und immer öfter auch Männer mit Männern. Während eines Tanzes entsteht eine besondere Verbindung zwischen den Tanzpartner*innen, die eine zarte, magische und einzigartige Welt erschafft. Jede*r weiß, wie eine Mazurka beginnt, aber niemand kennt die emotionale Verfassung nach dem Tanz. Diese Emotionen, Geselligkeit, geteilte Energie, die im Kollektiv entstehen, gibt es sonst nirgendwo. Beim Tanzball sind wir einfach alle Tänzer und Tänzerinnen. Es hat keine Reichen oder Arme mehr, keine Verkleidung, keine soziale Klassen. Für eine Nacht lang mischen sich alle.
Wir leben in einer Gesellschaft, die von künstlich geschaffenen Bedürfnissen beherrscht wird. Eine Gesellschaft, in der wir zu unablässigem Konsum angehalten werden, ganz auf uns alleine gestellt und rasend schnell. Der Tanzball ermöglicht es uns, die Lebensfreude mit anderen wieder zu finden und gemeinschaftliche Rituale zu praktizieren, die in Vergessenheit geraten sind. Beim Festival erleben wir, dass Gemeinschaft existieren kann und dass wir dazugehören.

Dieses beispiellose menschliche Abenteuer, das ich nun seit mehreren Jahren schon miterlebe, verdient es, beobachtet und wahrgenommen zu werden, damit noch mehr Menschen teilnehmen.

Im Sommer 2016 drehten wir mit zwei Filmteams, einem für tagsüber und einem für die Nacht, den gesamten Grand Bal. Zwei Teams, um alles durchzustehen. Wie die Tänzer*innen. Auf den Körper hörend, die Müdigkeit spürend. Aber ohne was zu verpassen. Und manchmal hielten wir inne, wie vor den Kopf geschlagen von der Schönheit von dem, was vor unseren Augen passierte. Die Menge aller Tänzer*innen, die sich im Kreis in der Nacht drehten, die Freude, der Anmut der Tänzer*innen, die Virtuosität der Musiker*innen, ihre Großzügigkeit, die Osmose zwischen all diesen Leuten, die fühlbare Energie, die sich aus dieser Frauen - und Männergemeinschaft befreite.
Nichts versäumen von diesem Wirbelwind. Und einen Film realisieren wie einen Wirbelwind. Das Filmteam erlebte die gleichen Dinge, wie die Tänzer*innen und die Musiker*innen. Die gleichen Empfindungen: Drehen, Halten, Essen, Tanzen, Tanzen, Tanzen, Schlafen, Drehen, Tanzen, Trinken, Drehen, sich treffen... Gefilmt wurden die Blicke, das Austauschen, die Gemeinschaft, die Summe
aller Einzelheiten, die unsicheren, entstehenden Bewegungen, die Flinkheit, die Einfachheit des
Experimentierens, das Loslassen, die Freiheiten, der süße Wahnsinn, die große Menschlichkeit, die Freude in den Gesichtern, die Wartenden auf den Stühlen, die aufkeimende Liebe, die kommende Müdigkeit, die Verbundenheit. Wir wollten zeigen, welchen Unterschied es macht, wenn wir uns trauen, einander zu berühren, einander anzuschauen, wirklich zusammen zu sein. Wenn das Leben pulsiert.