SECHS TAGE UNTER STROM
UNTERWEGS IN BARCELONA

BIOGRAPHIE DER REGISSEURIN – NEUS BALLÚS

Neus Ballús ist eine Filmregisseurin und Drehbuchautoin. Ihr erster Film The Plague (2013) wurde zuerst beim Berlinale Forum gezeigt und wurde mit mehr als zwanzig internationalen Preisen ausgezeichnet. Ihr zweiter Spielfilm, Staff Only (2019), mit Sergi López, feierte bei der Berlinale-Sektion Panorama Premiere.

Ballús’ Werk ist auf dem fruchtbaren Boden der Genre-Hybriden gewachsen und thematisiert einige der wichtigsten gegenwärtigen Probleme, wie Rassismus, Postkolonialismus und soziale Ungerechtigkeit. Laut Hollywood Reporter und Variety zählt sie zu den Filmemacher*innen die das spanische Kino verändern und zu den führenden Regisseurinnen des katalanischen New Wave.

INTERVIEW MIT DER REGISSEURIN

Warum drehten Sie einen Film über Klempner?

Warum nicht? Ich möchte das über das Filme drehen, was ich hier und jetzt beobachte, was mich umgibt. Und tatsächlich ist mein Vater ein Klempner, deshalb ist es nicht so verwunderlich, dass ich diese kleinen Helden des Alltags und ihre Geschichten beobachte. Der Alltag kann so surreal und aufschlussreich sein, dass ich nicht so weit weg musste um eine Geschichte zu kreieren.

Wie haben Sie die Hauptdarsteller ausgesucht? Da keiner von ihnen Schauspieler ist, wie konnten Sie sie davon überzeugen, an Ihrem Projekt teilzunehmen?

Ich ging regelmäßig zur Berufsschule der Gilde, wo es Gas-, Wasser- und Elektrizitätskurse gibt. Da habe ich mit in die Klassen geschlichen, um die Schüler zu beobachten. Ich wählte Moha, Valero und Pep aus, nachdem ich Hunderte von Klempnern getroffen hatte. Als ich sie zusammen sah, mit ihren Eigenheiten und Unterschieden, wurde mir klar, was für ein wundervolles Trio sie abgaben, mit einer großartigen Dynamik und einem komischen Potential gleichzeitig. Ich musste sie nicht davon überzeugen, beim Film mitzuspielen, da es ein langer und fortschreitender Prozess war. Als wir mit dem Drehen begannen, kannten wir uns bereits seit zwei Jahren und ssie waren emotional sehr in das Projekt eingebunden, da sie auf ein gewisse Weise Koautoren dabei sind.

Wie sieht bei solch einem Projekt der Ansatz für das Drehbuch und die Produktionsentwicklung aus?

Die Entwicklung von hybriden Filmen ist ein Hin und Her zur Realität. Ich kombinierte, was ich in den Charakteren sah mit dem, was ich mir vorstellte und ausdachte. Wir benutzten die Protagonisten und ihre wahren Geschichten mit einer fiktionalen Struktur und das war der Ausgangspunkt der Dreharbeiten. Aber dann ließen wir beim Drehen zu, dass Dinge passierten, die nicht im Skript standen und mit denen wir nicht gerechnet hatten.
In unserem Fall änderten wir sogar das Ende des Filmes. Wie bei dokumentarischen Prozessen, und bei über 70 Stunden Filmmaterial war das Drehbuch erst nach dem Schnitt beendet.

Wie ist es mit Darstellern zu drehen, die sich selbst als Rolle spielen?
Wie erreichten Sie gute Interpretationen der Rollen?

Die zwei Jahre Vorlaufzeit halfen uns, sie im Improvisationsspiel zu trainieren; sie lernten uns zu vertrauen und sich selbst ohne Furcht vor der Kamera zu zeigen. Dann richteten wir die chronologischen Dreharbeiten ein, bei denen sie nie wussten, was gedreht wird, mit welchen Darstellern oder welche Konflikte aufkommen würden, genau wie im echten Leben.
Die wichtigste Aufgabe während des Drehens war es, sie durch unangenehme Gefühle hindurch zu führen und ihre Energie und Müdigkeit zu steuern. Deshalb entwickelten wir eine filmische Methode und eine Art der Inszenierung mit möglichst wenig Auflagen, bei denen sie die große Freiheit hatten, sich einer Situation angemessen zu bewegen und zu reden.
Ich muss zugeben, dass das kein einfacher Prozess war und ich danke der Produzentin für ihre aktive Partnerschaft und ihr Vertrauen, als ich diese künstlerische Methode vorschlug, die so verschieden ist vom klassischen Produktionsprozess.

Was wollten Sie mit diesem besonderen kreativen Prozess erreichen?

Mein Ziel war es, eine fiktiv anmutende Geschichte, eine klassische Erzählung zu konstruieren, bei der die Zuschauer aber andauernd die Wahrhaftigkeit der Charaktere und die komplette Authentizität ihrer Gefühle wahrnimmt. Sie spüren zu lassen, dass es in Geschichte, die wir zeigen, Ehrlichkeit und Wirklichkeit steckt. Durch diese Genre-Hybridisierung wollte ich ausdrücken, dass wir alle einzigartig sind, dass wir alle außergewöhnliche Geschichten in uns tragen, unser Nachbar, der Bäcker um die Ecke. Im Alltagsleben, auch wenn es nicht sehen, stecken unendlichen Geschichten über die menschliche Verfassung. Wir müssen sie nur gute Beobachter sein und sie aufschreiben.

Der Film zeigt die Vorurteile, die auftauchen, wenn wir jemandem begegnen, der anders ist als wir. In einer Zeit, in der Rassismus im Mittelpunkt des Diskurses steht, scheint der Film etwas Hoffnung zu geben. Wäre dies eine zutreffende Beschreibung?

Europa ist divers, und wir haben keine andere Wahl, als uns diese außergewöhnliche Vielfalt anzusehen und zu erkennen, wie wir gleichberechtigte Beziehungen zueinander aufbauen können. Das ist das Hauptthema von SECHS TAGE UNTER STROM – UNTERWEGS IN BARCELONA und aus meiner Sicht auch das Hauptthema aller heutigen westlichen Gesellschaften. von den Arbeitern habe ich die politisch inkorrektesten Grausamkeiten über ihre marokkanischen, subsaharischen oder pakistanischen Kollegen gehört, die man sich nur vorstellen kann. Und es ist klar, dass es viel Rassismus gibt. Aber es ist auch wahr, dass in den politisch korrekten Kontexten mit mehr Mitteln und Macht ständig neue Ungleichheit durch strukturellen Rassismus geschaffen wird. Aber letztendlich sind die Arbeiter gezwungen, zusammenzuarbeiten, Hand in Hand. Und zum Glück reißt diese Situation viele Barrieren nieder.