DIE UNERSCHÜTTERLICHE LIEBE DER SUZANNE
Regie Katell Quillévéré
FILMOGRAPHIE
2012 SUZANNE Eröffnungsfilm Semaine de la Critique,
Cannes 2013
2010 UN POISON VIOLENT Jean-Vigo 2010, Quinzaine des Réalisateurs,
Cannes 2010
2009 L’ÉCHAPPÉE, Kurzfilm 17 Min.
2007 L’IMPRUDENCE, Kurzfilm 13 Min.
2005 À BRAS LE CORPS Kurzfilm 19 Min. , nom. César 2007, Quinzaine
des Réalisateurs, Cannes 2005
INTERVIEW mit Katell Quillévéré
In SUZANNE
vermischten sich zwei unterschiedlich Erzählformen: die
realistische Chronik und die romantische Fiktion, mit denen mehr als
25 Jahre beobachtet werden.
Ja, der Film spaziert an der Grenze dieser beiden Erzählformen entlang.
Ich glaube, dass ein Film seine Ästhetik in diesem Widerspruch findet,
wenn zwei sehr verschiedene Annäherungen sich treffen und aufeinander
prallen. Wenn alles immer in eine Richtung zeigt, wird das schnell langweilig.
Wie kamen Sie auf den Charakter der Suzanne?
Mein Lebensgefährte las zahlreiche Bücher über französische
Staatsfeinde wie Mesrine, Besse oder Vaujor und gab mir die Autobiografien
ihrer Frauen. Ich war fasziniert von der Haltung dieser Frauen. Sie waren
extrem mutig, und unterwarfen sich gleichzeitig in fast selbstmörderischer
Weise ihren Männern. Die ersten Kapitel ihrer Bücher handelten
alle von ihrer Kindheit und Jugend, auf der Suche nach Vorfällen,
ohne wirklich welche zu finden,, die dieser Entwicklung ihres Lebensweges
Sinn geben würden und diese lebensverändernden romantischen
Begegnungen erklären könnten. Warum stolperten sie über
diese Männer und verliebten sie sich so sehr in sie, dass sie ihr
Schicksal komplett mit dem der Männer verknüpften und für
sie Sprengstoff ins Gefängnis schmuggelten oder lernten, einen Helikopter
zu fliegen, um ihnen beim Ausbruch zu helfen. Ihre Lebenswege stellen
die Frage nach Schicksal und Glück. Gleichzeitig mochte ich schon
immer das Format des amerikanischen Biopics wie „Bird“, „Bound
for Glory“, oder „Coal Miner's Daughter“ . Und so reifte
in meinem Kopf die Idee, eine Biographie einer unbekannte Frau zu drehen,
die sich bis zur totalen Selbstaufgabe verliebt.
Der Film baut auf eine ganze Reihe von elliptischen Auslassungen auf,
die uns noch tiefer in die Geschichte hineinziehen. Sie bringen uns dazu,
uns auszumalen, was Suzanne während dieser Zeit durchgemacht hat.
Vor allem, als Suzanne wieder mit ihrem Sohn zusammenkommt, der dann
bereits drei Jahre alt ist.
Ja, die Erzählung auf Ellipsen aufzubauen, war eines der Wagnisse,
auf die wir uns bei diesem Film eingelassen haben. Meine Koautorin Mariette
Desert, mein Cutter Thomas Marchand und ich wollten alle eine sehr kraftvolle
Off-Screen-Geschichte erschaffen, die die Zuschauer in aktive Teilnehmer
verwandelt und es ihnen erlaubt, die Lücken in der Geschichte mit
ihren eigenen Erfahrungen zu füllen. Wir haben uns sogar dafür
entschieden, Charlie, Suzannes Sohn, erst mit drei Jahren auftauchen
zu lassen, anstatt seine Geburt zu drehen. Ich hatte den Eindruck, es
sei filmischer, eine Teenagerin, die plötzlich Mutter ist, mit einem
abrupten Schnitt zu zeigen. Die Brutalität einer Auslassung kann
besser als alles andere den Umbruch vermitteln, der durch so ein Ereignis
hervorgerufen wird. Der Film spricht auch über universelle Fragen,
die tief an den persönlichen Fragen eines jeden einzelnen rühren.
Jeder kann sich vorstellen, wie es ist, mit nur siebzehn Jahren ein Kind
zu bekommen. Wir haben uns auch schon sehr früh dafür entschieden,
die Liebenden auf der Flucht nicht zu drehen. Das ist zu vorhersehbar
und wurde schon zu oft im Kino gezeigt. An diesem Punkt der Geschichte
ist es viel interessanter, die zu beobachten, die zurückbleiben,
Suzannes Figur durch ihre Abwesenheit auszuarbeiten.
Die Originalität des Films rührt auch daher, dass er einer
Hauptfigur mittels „choralem“ Erzählen folgt.
Diese Struktur, sich zwischen der Chronik einer einzelnen Figur und einem „Choralwerk“ zu
bewegen, gab es schon in „Love like Poison“. Aber wir haben
die Idee weiterentwickelt und ihr ein echt romantisches Gefühl eingehaucht.
Suzanne ist das Rückgrat des Films – aber wir haben uns erlaubt,
sie aus der Geschichte verschwinden zu lassen, um mehr über die
anderen Figuren zu erfahren. Das Drehbuch tauchte tiefer in die Geschichte
jeder Figur ein. Doch während des Schnitts mussten wir die Geschichte
ausbalancieren. Wir haben den Film geglättet, indem wir folgendes
Prinzip anwandten: Szenen, in denen Suzanne nicht vorkam, die aber indirekt
mit ihr verbunden waren, weil sie in Bezug zu ihrer Abwesenheit standen,
blieben drin. Ob das nun die Szene mit dem Anhalter in Nicolas' Laderaum
war, oder die, als Charlie aus der Schule heimkommt, alles bezieht sich
auf sie.
Wir ahnen sofort, dass ihre Begegnung mit Julien dramatische Konsequenzen
haben wird, aber sie muss diese Geschichte durchleben, denn das ist wahre
Liebe zwischen den beiden …
Da stellt sich wieder die Frage nach dem Schicksal. Manchmal müssen
wir – ohne es unterdrücken zu können - etwas durchleben,
egal, wie viel Gewalt oder Chaos das nach sich zieht. Rückblickend
glaube ich, Suzanne leidet an einem so großen Mangel an Liebe,
dass sie ihn mit diesem Mann ausfüllen muss. Sie hat keine Wahl.
Sie muss diesen Weg gehen, auch wenn das als extreme und tabuisierte
Konsequenz bedeutet, ihr eigenes Kind im Stich zu lassen. Die Herausforderung
war, jenseits aller Verurteilung zu bleiben und nicht zu moralisieren.
Eine emotionale Geschichte zu konstruieren und beständig Liebe zwischen
den Figuren fließen zu lassen, damit das Publikum diese Liebe fühlen
kann, damit diese Liebe bei den Zuschauern genug Empathie hervorruft.
Damit sie Suzanne so begleiten wollen, wie sie ist, in totaler Ambivalenz,
ohne sie zu verurteilen. Einer der Gründe, warum wir Suzanne nicht
verurteilen wollen, ist, dass wir viel öfter sehen, wie sie sich
den Konsequenzen ihrer Handlungen stellt, anstatt die Entscheidungen,
die sie trifft, infrage zu stellen. Tatsächlich nähern wir
uns dem Ganzen nicht von einem psychologischen Standpunkt aus. Die meisten
wichtigen Entscheidungen trifft Suzanne off-screen. Sie ist uns und den
anderen Figuren immer einen Schritt voraus. Sie entzieht sich uns, wie
sie sich ihrem Vater entzieht, ihrer Schwester, und am Ende sogar Julien.
Diese mysteriöse Facette macht sie zu einem wirklich fiktiven Charakter.
Aber der Film übernimmt immer die Verantwortung für die Schwere
ihrer Entscheidungen. Sie bezahlt beständig den Preis für ihre
Freiheit.
Als Suzanne mit dem schlafenden Kind auf dem Schoß in der Bar sitzt,
erlaubt uns die Nahaufnahme ihres Gesichts, sowohl ihre Verzweiflung
darüber zu spüren, zu früh Mutter geworden zu sein, als
auch die Kraft, die ihr dieses kleine schlafende Wesen gibt.
Dieses Kind bindet sie, und gleichzeitig hilft es ihr zu leben. Sie wird
es nie bereuen, ihn bekommen zu haben. SUZANNE ist von Anfang bis Ende
ein Liebesfilm, mit den ständigen Widersprüchlichkeiten unserer
Gefühle und dem endlosen Hin und Her des Lebens. Suzanne verliert
Charlie, um Julien zu finden, und sie muss ihre Schwester verlieren,
um sich selbst zu finden und um eine echte Mutter zu werden. Manche Todesfälle
sind immens traurig und zugleich befreiend. Sie erlauben uns, von einer
Situation zur nächsten weiterzugehen. Sie erlauben uns zu wachsen. „Suzanne“ ist
auch ein Film über Belastbarkeit, er zeigt uns, wie unser Lebenswille
größer sein kann als alles andere. Als Suzanne am Ende im
Besuchsraum des Gefängnisses ist und über ihre beiden Kinder
nachdenkt, ist die Idee, dass hinter dem Chaos etwas erschaffen und vermittelt
wurde. Das Leben geht weiter, weit über sie hinaus. Deshalb ist
das letzte Gesicht, das man im Film sieht, das von Charlie.
Als Suzanne am Grab ihrer Mutter steht, wird plötzlich klar,
dass sie ihr Kind genau dem aussetzt, was sie selbst in ihrer Kindheit
erdulden
musste: die Abwesenheit der Mutter …
Absolut. Der Tod der Mutter enthält die zentrale Aussage des Films,
und ihr Grab ist ein ritueller Ort, an dem alles Wichtige gesagt wird,
geschieht oder gelernt wird. Aber der Tod ist nur ein Hinweis auf den
Sinn. Ich behandle das Thema nicht, als wäre es ein Kindheitstrauma.
Es herrscht eine dramatische Spannung im klassischen Wortsinn, wie es
in Biopics oft der Fall ist. Im Gegensatz dazu wollte ich eine Ahnung
von Geheimnis und Zufall entwickeln. Es gibt eine ursprüngliche „Ursache“,
die nicht darauf gewartet hat, dass wir die Geschichte erzählen.
Manchmal kennen wir die Ursache nicht einmal, und sie entzieht sich uns.
Dennoch ist sie unsere treibende Kraft, wie eine Quelle, die uns nährt.
Wie gingen Sie nach „Love Like Poison“ die Regie zu ihrem
zweiten Spielfilm an?
Bei „Suzanne“ habe ich versucht, „loszulassen“,
dem Zufall, der Realität und den Schauspielern mehr Raum zu lassen,
um einen Film zu machen, der freier und weniger glatt ist. Vor allem
habe ich versucht, sobald es möglich war, dokumentarisches Material
zu verwenden, um die fiktive Handlung in eine realistische Umgebung zu
tauchen. Gleichzeitig stellten mein Kameramann Tom Harari und ich uns
größeren formalen Herausforderungen, um dem Film etwas Lyrisches,
Poetisches zu geben. Im Unterschied zum Vorgängerfilm hatten wir
als neue Inspiration die amerikanische Fotografie der 1960er, von William
Eggleston und Stephen Shore. Andere Bezugspunkte waren Tom Wood und Lorca
di Corcia, den wir durch Virginie Montel entdeckt haben. Diese Einflüsse
führten dazu, dass wir die Räume fast wie in einer Dokumentation
einfingen, und gleichzeitig sehr komponiert.. Viele Einstellungen wurden
durch diesen Ansatz gefüttert, wie der Parkplatz mit den Lastwagen,
die Tankstellen, der Hafen, Suzannes Familie im Wohnzimmer, statisch
gerahmt . Ich habe versucht, so den sozialen Aspekt auf einzigartige
Weise in den Film einzubringen, indem ich den Lebensraum der Figuren
zeige, ihre Umgebung. Denn sozialer Determinismus ist ebenfalls ein Faktor
der Geschichte. Wäre der Vater kein Lastwagenfahrer und darum immer
weg gewesen, vielleicht hätten sich die Dinge anders entwickelt.
Vor allem hätte er Charlie behalten können. Wenn Maria nicht
so jung schon hätte arbeiten müssen...
Maria ist Suzannes kleine Schwester, aber sie übernimmt sehr viel
Verantwortung für sie.
Das ist normal in Familien: Wenn ein Kind Probleme macht, fühlt
das andere Kind die Notwendigkeit, sich gut zu benehmen. Alles bedingt
sich gegenseitig, und jeder Menschen übernimmt den Platz, der bleibt.
Die beiden Schwestern sind auf eine enge Art miteinander verbunden, aber
so, als ob sie nicht zur gleichen Zeit existieren könnten. Darum
habe ich zugelassen, dass Maria so brutal verschwindet. Suzanne ist an
einem Punkt ihrem Leben, an dem sie diesen Schock braucht, um reagieren
zu können.
Die Szene, in der die Fähre nach Marokko in die Nacht verschwindet,
hat eine poetische Intensität. Sie beschwört sowohl ein Ende
als auch einen Neuanfang herauf, die Bedrohung eines Schiffbruchs und
das Versprechen eines Woanders...
Der Anfang des Films, der eher rau und zerhackt ist, ist eine Reflexion
der Charaktere. Als die Geschichte sich weiterentwickelt, entfaltet sich
auch die Regie und erlaubt dabei eine größere Poesie. Ich
wollte, dass die Form sich mit der Geschichte entwickelt, dass sie immer
erwachsener und selbstbewusster wird, ihr Spielraum und ihr Ausmaß wächst,
wie die Figur von Suzanne.
Es gibt auch ein paar Ausflüge in die Fantasie, als Suzanne Maria
im Nachtclub erscheint, oder als sie Julien im Bus wiederfindet...
Ich wollte einfach die Macht der Fantasie ins wirkliche Leben einschreiben.
Wie fühlt es sich an, von jemandem heimgesucht zu werden? Wie kann
das Kino dieses Phänomen übersetzen? Dieses sehr seltsame Gefühl,
dass zugleich sehr natürlich ist. Wenn wir jemanden so sehr vermissen,
haben wir den Eindruck, wir sehen diese Person überall: Wir gehen
auf der Straße an ihr vorbei, wir sehen sie in den Gesichtern von
Fremden. Ich stelle mir vor, dass das im Nachtclub passiert. Im Gegensatz
dazu ist das, was im Bus passiert, ein emotionaler Schock für Suzanne.
Diese Erscheinung ist alptraumhaft. Sie hat gerade erst angefangen, ihr
Leben neu aufzubauen. Julien ist alles, dem sie entkommen will, und gleichzeitig
alles, worauf sie immer schon gewartet hat. So ein Augenblick kann nur
auf fantasievolle Weise ausgedrückt werden.
Bisher spielte Sara Forestier sehr expressive Rollen. Hier ist sie fast
schon gegen ihren Typ besetzt ....
Die Figur von Suzanne verlangte nach einer bescheidenen Interpretation.
Sara war davon sofort überzeugt, so wie wir alle. Von diesem Punkt
an war unsere Zusammenarbeit sowohl naheliegend wie auch faszinierend.
Sie ist eine unglaublich gute Schauspielerin, mit einer seltenen Intensität,
in der Lage, der gewaltsame Situationen zu meistern. Zur gleichen Zeit
umgibt sie ein Strahlen, was ein enormer Vorteil für ihre Figur
war, denn ich wusste, dass der Film wahrscheinlich sehr dunkel sein würde.
Ich wusste, dass ihr inneres Licht und ihre Energie einen frischen Wind
in den Film bringen würde, den dieser brauchte. Ich war während
des Drehs fasziniert von der emotionalen Reife dieser 25-jährigen
Frau. Sie konnte alles ausdrücken, von Gewalt bis hin zu Liebe und
Leidenschaft, Trauer, Mutterfreuden, als ob sie schon hundert Leben gelebt
hätte...
Und Adèle Haenel?
Ich habe sie in Christophe Ruggias Film „Les Diables“ gesehen,
dann in Céline Sciamas „Water Lillies“ und in „L'Apollonide“ von
Bertrand Bonello. Ich wollte schon seit langem mit ihr arbeiten. Sie
ist eine ungewöhnliche Person und Schauspielerin. Sie hat so viel
Tiefe, es war faszinierend, sie in lichtere Gefilde zu führen. Ich
wusste, dass der Leichtsinn, den ich in Maria gesucht habe, bei ihr nie
hohl wäre. Sie wusste, wie sie die Melancholie und das Drama hinter
ihrem Lachen an die Oberfläche bringen konnte. Ich wollte auch ihre
Albernheit und ihre Fantasie herausfordern, denn sie ist eine sehr lustige
Person. Vor allem aber wollte ich, dass sie sich gehen lässt. Ich
habe viele ihrer Vorschläge während des Drehs angenommen.
Die Szene, in der sich die Teenager Maria und Suzanne hinter dem Zaun
verstecken und Jungs ärgern, ist in der Tat sehr komisch...
Genau – im Teil über das Heranwachsen kam vieles von den Schauspielerinnen.
Ich gab ihnen die Grundstruktur der Szenen, aber dann habe ich ihnen
viel Freiheiten gelassen. Sara, Adèle und François Damiens
sind sehr stark darin zu improvisieren. Es war ein wahres Vergnügen.
Während der Grillszene zum Beispiel richtete ich das Set ein, die
Stimmung, die Extras, aber ab dann habe ich sie improvisieren lassen,
damit etwas Reichhaltiges geschehen konnte, etwas, das näher an
der Realität war.
Und die Wahl François Damiens?
Ich habe seine Arbeit in Axelle Roperts sehr schönem Film „La
Famille Wolberg“ sehr gemocht, und dann habe ich seine komischen
Fähigkeiten entdeckt, die versteckte Kamera, die ihn in Belgien
berühmt gemacht hat. Er brachte mich zum Lachen, er ist ein Genie,
ein unglaublich guter Schauspieler. Ich spüre, dass er die Tiefe
und Breite von Schauspielern wie Jean Yanne in „Nous ne viellirons
pas ensemble““, Guy Marchand oder sogar Pialat selbst hat.
Er erneuert etwas in seiner Physis, seinem Verhältnis zur Rolle,
seinem emotionalen Ausdruck, es ist sehr ernst und roh. Er berührt
mich tief. Ich konnte mir keinen anderen in der Rolle des Nicolas vorstellen.
Und Paul Hamy ?
Zuerst einmal war er gar kein Schauspieler. Ich wollte, dass Julien jemand
Unbekanntes ist, dass diese Person die ästhetische Verbindung zwischen
der dokumentarischen Seite des Films und der narrativen Fiktion war.
Also habe ich ihn per Ausschreibung entdeckt. Keinen Profi für so
eine wichtige Rolle zu nehmen war ein gefährliches Spiel. Hätte
die Liebesgeschichte zwischen ihm und Suzanne nicht funktioniert, hätte
man sich gefragt, was sie überhaupt mit ihm will, wäre der
Film einfach zerfallen. Es hat lange gedauert, bis wir ihn gefunden hatten,
und bis ich sicher war, dass er der Richtige ist. Wir haben sehr viel
gearbeitet, vorbereitet … Paul hat eine sehr anziehende Präsenz
auf der Leinwand, und ein außergewöhnliches Gespür fürs
Schauspielern. Er hat all die passenden Zutaten, um ein großer
Schauspieler zu werden.
Einen Zeitraum von 25 Jahren auf den Gesichtern der Schauspieler darzustellen
ist eine echte Herausforderung …
Ja, einer der Herausforderungen des Films war die künstlerische
Leitung, die benötigt wird, wenn die Figuren altern. Ein Fehler
in der Perückenwahl, ein Detail in der Maske, das bemerkt wird,
und der Zuschauer ist von der Handlung abgelenkt. Glücklicherweise
hatten wir ein außergewöhnliches Haar- und Masken-Team. Wir
haben uns sehr schnell dafür entschieden, dass François der
zeitliche Dreh- und Angelpunkt sein würde, denn sein Aussehen ist
sehr formbar. Er kann problemlos am Anfang des Films 38 sein, und am
Ende 60. Wir haben sein Aussehen extrem verändert, seinen Körper.
Er hat daran gearbeitet, wie sich sein Gang verändern würde.
All diese Vorbereitungen waren schwer für ihn. Wir brauchten über
zweieinhalb Stunden allein für sein Gesicht. Bei Sara und Adèle
hatten wir uns dafür entschieden, das Wichtigste durch ihr Schauspiel
darzustellen, mit präzisen und nüchternen Elementen, die das
Vergehen der Zeit und die Reife verstärkten: Kürzeres Haar … Wie
sich ihr Kleidungsstil entwickelt.
In diesem Stil vergeht die Zeit auch subtil in der Ausstattung...
Gemeinsam mit unserer Produktdesignerin Anna Falguères haben wir
uns entschieden, keine Zeitperiode nachzubauen, sondern stattdessen zu
versuchen, sie heraufzubeschwören, so dass sich die Dinge selbst
so anfühlen, als ob sie aus dieser Zeit stammen. Ein Objekt, ein
Material, eine bestimmte Tapete genügten, um eine bestimmte Ära
zu suggerieren. Wir spürten, dass es funktionieren würde, wenn
wir es nicht anzweifelten. Ich wollte, dass die Zeit fließt, die
Veränderungen, die wir bemerken, sollten fast unterbewusst auftauchen,
als kleine Hinweise darauf, dass die Zeit vergeht.
Und die Musik …
Für mich war es wichtig, dass der Film den Rock'n'Roll-Sound der
1990er und 2000er hat. Das sagt sowohl etwas über Suzannes Teenagerjahre
als auch über meine Generation aus. Ich verwendete Songs, die die
englische All-Girl-Rockband Electrelane bereits geschrieben hatte und
die ich sehr liebe. Und ich habe auch deren Leadsängerin Verity
Susman gefragt, ob sie ein paar neue Lieder komponieren würde. Sie
war diejenige, die das Hauptthema des Films geschrieben hat, das auch
während einiger Schlüsselmomente wieder auftaucht und eine
emotionale und zeitliche Kontinuität in den Film bringt. Es gibt
außerdem noch ein paar Songs aus dieser Periode, die sich verbinden:
Noir Désir, Courtney Love und schlussendlich Nina Simones Gospelversion
von „Suzanne“, mit ihrer Stimme die alles erlebt zu haben
scheint, alles Aufs und Abs des Lebens.
… was das Motto von Leonard Cohens Lied ist.
Ja, und dem ich auch eine Hommage erbringe, auch wenn es nur wegen einer
Anekdote ist. Als ich anfing, „Love Like Poison“ zu drehen,
wurde der Dreh storniert, weil die Finanzierung noch nicht stand. Ich
war deprimiert, ich war mir nicht sicher, ob der Film jemals gedreht
werden würde … Ich spielte mit dem Gedanken, ein anderes Projekt
zu drehen, als ich Leonard Cohen live gesehen habe. Es war wunderschön,
ihn wieder auf der Bühne zu sehen – das erfüllte mich
mit solcher Lebenskraft, dass ich wieder mit dem Schreiben anfing. Und „Suzanne“ war
geboren.
Eines der schönen Dinge an diesem Film ist, dass uns die Geschichte
mitreißt und wir ihr folgen, ohne Ahnung, wohin uns die Regiearbeit
führt … Außer dem Namen des Films, der ein Stolperstein
ist...
Ja, der Titel hat sich von Anfang an aufgedrängt. Er half uns, die
Tatsache zu akzeptieren, dass es zu Beginn des Films keine Hauptfigur
gibt. Suzanne ist unsere Führerin, alles geschieht in Verbindung
zu ihr, die Art, wie das Leben um sie läuft und die Liebe sind an
sie geknüpft.
Suzanne ist ebenso die Heldin von Pialat’s „A nos amours“ (der
englische Titel ist „Suzanne“) …
…
der ein Kultfilm für mich und meinen Produzenten Bruno Levy ist.
Vor jedem Dreh schaue ich mich verschiedene Filme von Pialat (nochmal)
an. Er ist ein Prüfstein für mich. Irgendetwas tief in mir
verbindet mich mit seinem Kino. Im Rückblick ist es in „A
nos amours“ die fast schon inzestuöse Beziehung zwischen Suzanne
und ihrem Vater, die einen Eindruck bei mir hinterlassen hat. In sehr
zurückhaltender Weise ist mein Film auch die Geschichte eines jungen
Mädchens, das versucht, der erdrückenden Liebe ihres Vaters
zu entkommen.
Die Eröffnungsszene bezieht sich auf diese starke Verbindung, mit
dem tanzenden kleinen Mädchen und dem Vater, der ihr bewundernd
zusieht …
Ja, das ist wirklich ein Vater, der seine Tochter beobachtet. Deswegen
habe ich ihn im Bild isoliert. Am Anfang des Films wollte ich den Zuschauer
nur an einen Ort der Kindheitserinnerungen zurückversetzen, so dass
er emotionale Verbindungen mit den Figuren eingehen kann. Am Anfang war
da dieses Trio, das sich immens nahesteht, das man nicht sofort versteht,
an das man sich später jedoch erinnert. Am Ende des Films, im Besucherraum,
findet sich eine seltsame Familie wieder. Der Vater kehrt zurück
in Suzannes Leben.
Ja, aber wir glauben, dass Julien auch zurückkehren wird, nach
all den anderen Elllipsen!
Möglich … Auf jeden Fall markiert das Filmende nicht das Ende
ihres Liebeslebens!
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