Interview mit Rachid Djaïdani
Nach "Rengaine",
Ihrem ersten Spielfilm, den Sie ganz allein in 9 Jahren gedreht hatten,
stellen Sie jetzt TOUR DE FRANCE vor, den Sie
mit einem wesentlich größeren Budget produzierten und, noch
wichtiger, mit Gérard Depardieu. Verändert das die Dreharbeiten
sehr?
Man muss dieselbe Entschlossenheit zeigen, denselben Glauben und die
gleiche Liebe zur Arbeit. Das ist schon eine Frage des Selbstrespekts.
Aber sicher
ist es anders, da ich mit einer Produzentin arbeitete, da entsteht eine
Beziehung, die eine gemeinsame Vorstellung vom Film schafft. Ich erinnere
mich an das erste Mal, als ich 2012 in Cannes die Geschichte Anne-Dominique
Toussaint erzählte. Bis zum letzten Schnitttag erinnerte sie mich
an die Energie, die mich an jenem Tag antrieb. Sie hielt mich wirklich
auf dem Kurs, den ich ansteuern wollte. Ich hatte auch ein fabelhaftes
Postproduktions-Team, mit Margot Testemale für den Ton, Julien Perez
für die Mischung, Elie Akola für das Color Grading und schließlich
als Cutterin Nelly Quettier, die den Schnitt so verdichtete und verfeinerte,
dass eine wirklich tolle Fassung entstand.
Wie sind Sie ans Schreiben
von TOUR DE FRANCE herangegangen?
Mir ist der Widerstreit beim Schreiben sehr vertraut. Damit hatte ich
bei meinen bisherigen drei Romanen zu kämpfen. Aber beim Schreiben von
Drehbüchern gefällt mir, dass es mir weniger Bauchschmerzen bereitet.
Die Freude kam vor allem daher, dass Anne-Dominique Toussaint mich unterstützte,
mir half, mit meiner eigenen Stimme zu schreiben, meinem eigenen Stil.
Sie ist ein Cornerman des Kinos, sie gab mir den Schwung, an meine Grenzen
zu gehen.
Eine Szene zu schreiben und zu entwickeln ist weniger ein literarischer
Prozess. In zwei oder drei Worten oder zwei oder drei Bildern kann man
ein Szene erschaffen. Mit den Dialogen entsteht etwas organisches. All
das Umschreiben mit Anne-Dominique machte die Geschichte noch stärker.
Wir haben wirklich die Geschichte in Form geprügelt. Damit sie direkt,
zusammenhängend wird, dass es in jeder Szene eine Wahrheit gibt,
eine Authentizität. Das war ziemlich schön, anstrengend und
gleichzeitig sehr erfreulich. Es hat weniger als ein Jahr gedauert, das
Drehbuch zu
schreiben, aber ich hatte schon lange davon geträumt.
Im Film hört
man Rap, die "Marseillaise" und Lieder von
Serge Reggiani und Serge Lama...
Ich liebe Musik, sie verleiht eine mystische Emotion. Ich hatte mir TOUR
DE FRANCE immer als Musical vorgestellt. Clément Dumoulin aka "Animalson" produzierte
und komponierte die Musik. Für mich ist er Kult, seine künstlerischen
Zusammenarbeiten sind für diejenigen, die Rap mögen, Klassiker.
Als Animalson zu diesem Abenteuer dazu kam, wusste ich, dass das Projekt
von ganz oben gesegnet ist und mit einem amtlichen Street Spirit gezeichnet...
Es war das erste Mal, dass er für einen Film die Musik machte. Es
gelang ihm, seine Kunst einzubringen.
Seine Musik ist die Verschmelzung von Genres, von Musikrichtungen, Rap,
klassisch, baskisch, von den Antillen, arabisch etc. Sie swingt von einer
Szene zur nächsten. Sie erschafft eine echte musikalische Sprache.
Bei den Rap-Texten von Sadek achtete ich darauf, dass sie kein Slang
waren, jedes Wort klingt schwungvoll, wie eine Tirade von Molière,
der einen König niederschreit.
Wie kam Sadek dazu?
Ich habe viele Rapper gesehen, ich habe viele Videos angeguckt. Ich machte
ein Casting. Es war eine großartige Idee von Clément, dass
wir Sadek trafen und über die Rolle und den Film sprachen. Wir machten
mehrere Testaufnahmen, aus denen die Figur, so wir wir sie jetzt sehen
können, entstand. Seine Zartheit und Schüchternheit und sein
Aussehen sind sehr berührend. Seine Intelligenz beim Zuhören
ebenso. Seine Neugier ist offensichtlich, denn er bewegt sich hier auf
für ihn völlig neuem Boden. Er ist dieses Risiko eingegangen.
Wir hatten einen brüderlichen Pakt: uns nicht zu betrügen,
uns nicht zu verraten und die beste Arbeit abzuliefern. Es war toll,
ihn zu
führen. Manchmal zog ich ihm Handschuhe an, und wies ihn an, seinen
Text zu vergessen und eine Reihe von Boxhieben, links, rechts und Aufwärtshaken.
Er ist grandios.
Und Gérard Depardieu?
Wenn du mit dem Boxen anfängst, glaubst du nicht, dass du jemals
Mohammed Ali treffen könntest. Du träumst heimlich davon, aber
du würdest
es nie aussprechen. Wenn du dann tatsächlich Ali gegenüberstehst,
ist das komplett mystisch. Mit Tonton ist es dasselbe, er sieht dich
an und auch wenn du auf der Hut bist, spürst du das Gewicht eines
schwerelosen Mannes, das ist mystisch. Da gibt es nicht genug Wörter,
um auszudrücken,
wie sehr ich ihn liebe. Er ist ein ungewöhnlicher Mann, der Mohammed
Ali des Kinos. Respekt, Tonton!
Warum nennen Sie Depardieu Tonton (Onkel)?
Gérard Depardieu gehört jedem, Tonton gehört mir, mein
Onkel. Ich rede ihn nie mit seinem Namen an. Das ist mein Ausdruck des
Respekts. Tonton und ich, wir sind beide Boxer, Arbeiterkinder. Das Leben
schlägt uns und wir schlagen das Leben und wir ertragen die Mittelmäßigkeit
nicht. Mit ihm jagt mir die Dunkelheit des Kinos keine Angst mehr ein. Wollten
Sie zwei Körper, zwei auffällige Erscheinungen zeigen?
Das sind zwei Bären, ja. Das ist überwältigend. Sadek
und Tonton sind schön. Ich finde sie in ihren verletzten Körpern
schön. Ihre Haut ist vernarbt und verletzt. Das ist brutal. Sadek
hat den Asphalt als Narbe auf der Haut. Tontons Verletzungen lassen seine
Seele wiederauferstehen. Wenn die beiden sich anschauen, liegst du am
Boden. Das sind zwei Naturgewalten, zwei hypersensible Künstler,
man muss sie beobachten und ihnen zuhören können. Da gilt es
keinen Atemzug zu verschwenden.
Im Film gibt es eine weitere wichtige
Figur, den Maler Joseph Vernet.
Wie kamen Sie auf diese Idee?
Ich habe glücklicherweise einen Nachbarn, Julien Bonin, der von Malerei
begeistert ist. Er erzählte mir von Joseph Vernet, einem Marinemaler
des 18. Jahrhunderts, der von Ludwig XV beauftragt wurde, die Häfen
Frankreichs zu malen. Das weckte mein Interesse an seiner Malerei und das
sprach mich sofort an. Seine Rundreise 250 Jahre später zu wiederholen
war stark, denn auf eine Weise hat sich nichts verändert. Es ist
verwirrend, an Vernets Aussichtspunkten zu stehen und ihn wiederzubeleben.
Nach "Rengaine" drehte ich "Encré", einen 73-minütigen
Dokumentarfilm über den Künstler Yassine Mekhnache. Ich folgte
drei Jahre lang meinem Künstlerfreund und saugte jeder seiner Gesten
auf, jeden Blick, seinen Malstil. Im Stil des Method Acting absorbierte
ich das Malersein. Aus "Encré" habe ich viel für
TOUR DE FRANCE übernommen, so konnte ich meine Kamera benutzen,
um die Leinwand einzufangen, den Pinselstrich und den Zweifel.
Der Film ist eine Genre-Mischung, zwischen der altüberlieferten
Kunst dieser Malerei und dem Rap, der oralen Poesie der heutigen Kunst.
Er ist eine Ode an die Maurerhandwerk und das Bauen. Eine Ode an die
Geräusche
der Kelle. Das Geräusch im Film der Kelle, die gereinigt wird, lässt
die Arbeitswelt entstehen. Das finde ich umwerfend. Ich versuche, eine
besondere Harmonie zwischen der Vergangenheit und dem Heute zu finden.
Mit einem jungen Typen, der eine Sichtweise findet, indem er seinen Finger
auf ein Gemälde von Vernet legt; und einen Arbeiter zu haben, der
mit seinem Vokabular und seiner Begeisterung die Worte findet, mit denen
er bei dem jungen Typen Interesse weckt, indem er radikal ist, wenn er über
Frankreich, das schöne Frankreich, spricht. Da geht es um die Materialien
und Schaffensdrang. Er ist wie ein Barde.
Im Film hört Serge beim Malen Radio und wir bekommen mit, dass davon
gesprochen wird, dass die Araber den Weißen die Arbeit wegnähmen.
Auf unserem Lebensweg werden wir verletzt. Auch unser Gegenüber. Also,
auch die, die uns weh tun, werden verletzt. Das ist das einzige Mittel,
das sie gefunden haben, um zu existieren. Heute geht es vor allem um Hassgerede
und darum, Leute zu diskreditieren. Diese Ansammlungen von Wörtern
haben sich zu Bergen verdichtet, die unüberwindbar geworden sind.
Das sind keine Geschwülste sondern mentale Barrieren. Die kleinen
Leute sind sehr miteinander verbunden, die Dichter und Humanisten sind
entzweit. Sie arbeiten jeder für sich, ganz individuell.
Lag es Ihnen besonders am Herzen, einen Film zu drehen, der im Heute
verwurzelt ist?
Dieser Film nimmt den Zuschauer auf eine Reise mit, aber ich hoffe, die
geht über den Kinobesuch hinaus. Die dazu anregt, sich und seine Umgebung
anders anzugucken und zu verstehen, dass ein Mann wie Serge (Gérard
Depardieu) wegen seiner Verletzungen so extrem in seinem Denken wurde,
nicht wegen einer Abscheu vor der Gemeinschaft. Als ich ein Maurer war,
arbeitete ich mit diesen Menschen, die wir "Faschisten" oder "Rassisten" nennen.
Ich nahm ihnen immer den Wind aus den Segeln, indem ich mit meiner Kelle
auf der Baustelle arbeitete und sie respektierte. Sie waren vom Leben
so gebrochen, dass ich sie nie verurteilte. Serge ist einer davon, kein
schlechter
Typ, aber verloren. Die beiden Charaktere sind radikal. Der eine ist ein Hardcore-Rapper,
der andere hasst die ganze Straßen-Kultur. Wollten Sie diese radikalen,
gegensätzlichen Haltungen zeigen?
Ja, genau. Ich kenne diese Radikalität auf beiden Seiten sehr gut.
Was die beiden Figuren Serge und Far'Hook verbindet, ist ihr Bedürfnis
nach Liebe. Und ihre Radikalität verbirgt diese Sehnsucht. Beide wollen
in den Wald rennen und schreien: Liebt mich! Unter der Radikalität
gibt es eine ganz weiche, liebevolle Seite.
Poesie kann das Leben verändern. Wir hören zum Beispiel "Der
Albatros" von Baudelaire.
Weil ich selbst daran glaube. Ich bin 40 Jahre alt und glaube noch an
Dinge, an die meine Tochter schon nicht mehr glaubt. Deshalb habe ich
die Kamera
in die Hand genommen.
Könnte man sagen, das sei ein naiver Film?
Das ist ein Film, der hart zuschlägt, aber so gar nicht wirkt. Das
ist wie wenn Mohammed Ali seine Verteidigung öffnet, dann kommt immer
ein unerwarteter Schlag. Der Film tritt eine sanfte Lawine los. Beim Angucken
kommt er nett daher, aber er führt dich an einen Abgrund. Der Film
streckt eine Hand aus - aber nicht zum Beißen.
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